Die Versorgungssituation von psychisch erkrankten Menschen mit Intelligenzminderung in Deutschland ist bei gleichzeitig erhöhter Prävalenz psychischer Erkrankungen als anhaltend ungenügend zu bezeichnen (Metaxas, C., Wünsch, A., & Nübling, T. S. R., 2014; Stünkel-Grees, N., Clausen, J., & Wünsch, A. 2018). Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde hat 2019 in ihrem Positionspapier zur „Zielgruppenspezifischen psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen – Situation, Bedarf und Entwicklungsperspektiven“ ebenfalls nachdrücklich darauf hingewiesen und den Veränderungsbedarf differenziert beschrieben (DGPPN, 2019). Dabei sind Vertreter*innen des Gesundheitswesens und damit auch Psychotherapeut*innen nach Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention aufgefordert, Menschen mit Behinderung Gesundheitsleistungen in gleicher Qualität wie Menschen ohne Behinderung zur Verfügung zu stellen (BRK, U. B., 2006).
Vier Berliner Psychotherapeut*innen, welche Menschen mit Lernschwierigkeiten bereits langjährig begleiten, geben hier Einblick in ihre Tätigkeit. Inwieweit hat ihre Ausbildung sie auf ihre Tätigkeit vorbereitet und welchen Änderungsbedarf sehen sie für die zukünftige Aus- und Weiterbildung? Die Psychotherapeut*innen Antje Köpp (Diplom-Pädagogin, Fachrichtung Sonderpädagogik, systemische Therapeutin/Beraterin und approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Fachkunde Verhaltenstherapie), Irene Drägerdt (Diplom-Psychologin, systemische Beraterin, in Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin, Fachkunde Verhaltenstherapie), Martin Rothaug (Studium der Psychologie an der FU Berlin, Diplom 1987, Approbation als Psychologischer Psychotherapeut 2000) und Detlef Meyer (Diplom-Psychologe, Vertragstherapeut der KV Berlin, Fachkunde Verhaltenstherapie) berichten.
Wie kamen Sie in Ihrer Berufstätigkeit mit Menschen mit Intelligenzminderung in Berührung?
AK: Während meiner langjährigen Tätigkeit als Pädagogin in Einrichtungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung (überwiegend sogenannte Enthospitalisierungseinrichtungen) musste ich immer wieder die Erfahrung machen, dass diese bei bestehenden zusätzlichen psychischen Erkrankungen nicht psychotherapeutisch versorgt wegen konnten, da bei den niedergelassenen Therapeut*innen einfach kein Therapieplatz gefunden wurde. Daraus resultierten häufig Überforderungssituationen im Lebensumfeld, einzige Hilfe waren meist Psychopharmaka. Um diesen Mangel entgegenzuwirken, entschloss ich mich, mir entsprechende Kenntnisse anzueignen und mich zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ausbilden zu lassen.
MR: Im Hauptstudium war ein Schwerpunkt die Arbeit in einem Projekt mit schwermehrfachbehinderten Kindern in einer Schul-Einrichtung der Spastikerhilfe Berlin.
DM: Meinen ersten Kontakt mit Menschen mit Intelligenzminderung hatte ich mit ca. 18 Jahren als Austauschschüler in den USA. Ich hatte mit Ausnahme der "Pflichtkurse" nur solche gewählt, die ich damals im deutschen Schulsystem nicht belegen konnte - u. a. "Psychologie". Im Rahmen des Psychologie-Kurses gab es die Möglichkeit, entweder ein Referat über ein Thema zu halten oder ein Kurzpraktikum (ca. 6-8 Wochen) in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Intelligenzminderung zu machen. Ich hatte mich für Letzteres entschieden und unternahm Freizeitaktivitäten mit den Bewohnern – meist begleitete ich sie auf Ausflüge oder in das Kino auf dem Gelände der Wohneinrichtung. Bei den Kontakten wurde schnell das starke Bindungsbedürfnis deutlich – mit dem ich zunächst leichte Schwierigkeiten hatte, wenn sich mehrere z. T. mehrfach, auch körperbehinderte Bewohner an mich klammerten.
ID: Ich habe bereits in meiner Kindheit Kontakt mit dieser Patientengruppe gehabt, da meine Eltern in verschiedenen Wohnheimen für Menschen mit Intelligenzminderung tätig waren. Durch diese Prägung hatte ich nie Berührungsängste mit dieser Patientengruppe.
Nach einer Ausbildung und nach dem Studium für Psychologie habe ich viele Jahre in der Forensischen Psychiatrie als Stationspsychologin gearbeitet. Meine Aufgabe war es, Patienten mit einer Intelligenzminderung, die zusätzlich Straftaten begangen hatten, durch therapeutische Arbeit auf ein Leben außerhalb des Maßregelvollzuges, meist für Einrichtungen der Eingliederungshilfe, vorzubereiten.
Wo arbeiten Sie aktuell? Wie gestaltet sich Ihre Arbeit?
AK: Inzwischen arbeite ich in der Heilpädagogischen Ambulanz Berlin gGmbH. Meine Aufgabe hier ist es, mit Menschen mit Intelligenzminderung psychotherapeutisch orientiert zu arbeiten, um ihnen (wieder) mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Dies kann z. B. die Arbeit an bestehenden Verhaltensauffälligkeiten unklarer Genese und ohne psychiatrische Diagnose bedeuten, aber auch mit diagnostizierten Ängsten, Zwängen, Impulskontrollstörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder akuten oder chronischen Belastungen durch Traumatisierungen. Die Klient*innen sind meistens im Erwachsenenalter und in der Lage, gesprächsbasierte Angebote anzunehmen. Die therapeutischen Prozesse laufen recht unterschiedlich ab, brauchen aber vor allem mehr Zeit und Geduld als bei anderen Patient*innengruppen, da die Aufmerksamkeitsspannen kürzer und häufigere Wiederholungen notwendig sind. Die Einbeziehung des Lebensumfelds ist in vielen Fällen hilfreich, geschieht jedoch nur mit Einwilligung des*der Klient*in. Die psychotherapeutische Tätigkeit mit Erwachsenen mit Intelligenzminderung gestaltet sich sehr vielfältig und abwechslungsreich.
MR: Ich bin seit vielen Jahren im Wohnbereich eines großen Trägers der Behindertenhilfe in Berlin als Psychologe/Psychotherapeut tätig. Meine Arbeitsschwerpunkte sind die therapeutische Unterstützung und Begleitung der Menschen mit Behinderung, die Beratung der betreuenden Mitarbeiter*innen im System, die aus dem Bereich der Heilerziehungspflege und Pädagogik kommen, die Arbeit an neuen Konzepten, wie z. B. Gewaltschutzkonzept, und das Durchführen von Fortbildungen zu verschiedensten psychologischen Themenfeldern.
DM: Nach 17-jähriger Tätigkeit als Heimpsychologe/~Psychotherapeut ließ ich mich zunächst in einer s. g. Privatpraxis nieder und arbeitete im Rahmen der ambulanten Psychotherapie im Kostenerstattungsverfahren - u. a. weiterhin mit überwiegend Jugendlichen/jungen Erwachsenen mit IM und führte Fortbildungen zum Thema "Umgang mit herausfordernden Verhalten" für Betreuer*innen durch. Seit ca. 7 Jahren arbeite ich als s. g. Vertragstherapeut der KV Berlin. Bei den Psychotherapien wurde schnell deutlich, dass die Interventionen während der 1-2-stündigen Psychotherapie ein- bis zweimal pro Woche oder 14-tägig für eine dauerhafte kognitive Umstrukturierung nicht ausreichen – wichtig war die enge Zusammenarbeit mit den Betreuer*innen der Wohngruppen, damit die während der Psychotherapie entwickelten neuen Verhaltensweisen – z. B. um sich zu beruhigen, oder die kognitive Umstrukturierung in der Zwischenzeit bis zur folgenden Therapiestunde und längerfristig geübt wird. Dieses Üben ermöglicht erst eine dauerhafte kognitive Umstrukturierung und ist m. E. essentiell für eine erfolgreiche Psychotherapie mit MmIM, da diese noch stärker kontextbezogen lernen als Patienten ohne IM und ihnen die Übertragung eines neu gelernten Verhaltens während der Therapiestunde auf einen anderen Kontext (Lebenszusammenhang) sehr schwer fällt - v. a. wenn auffälliges/herausforderndes Verhalten z. B. im Wohnbereich an diesen Kontext - i. S. einer klassischen Konditionierung "gekoppelt" ist. Daher ist die enge Zusammenarbeit mit den Betreuer*innen vor Ort unbedingt notwendig. Bei Patient*innen mit leichter Intelligenzminderung sind meist die zusätzlichen Therapieeinheiten für Bezugspersonen im Verhältnis 4:1 (analog zur Psychotherapie bei Kindern/Jugendlichen) ausreichend. Bei Patient*innen mit mittelgradiger Intelligenzminderung oder bei Personalmangel in der Wohneinrichtung, kann die Unterstützung vor Ort auch von einem*einer Einzelfallhelfer*in als Co-Therapeut*in übernommen werden[1].
Dies erfordert eine stichhaltige psychotherapeutische Begründung und wenn möglich eine zusätzliche von einem*einer Psychiater*in, um die Finanzierung über den Sozialhilfeträger trotz einer s. g. „Doppelfinanzierung“ (EFH neben den Kosten des Platzes in der Wohneinrichtung) zu ermöglichen. Alternativ könnte von Vertragstherapeut*innen auch eine Soziotherapie über die Krankenkasse beantragt werden – allerdings ist eine Soziotherapie leider auf maximal 120 Stunden begrenzt.
ID: Derzeit arbeite ich im Sozialpsychiatrischen Dienst und bestimme die Personenkreiszugehörigkeit (ICD-10 Diagnostik) und leite Maßnahmen der Eingliederungshilfe ein. Die therapeutische Arbeit und auch der Kontakt mit dieser Patientengruppe machen mir große Freude. Das therapeutische Vorgehen ist immer eng an den Bedarfen und an den Kommunikationsmöglichkeiten der Patienten auszurichten. Neben der klassischen Diagnostik braucht es eine Übersetzung auffälligen Verhaltens und eine Interpretation dieses Verhaltens, um die Patienten zu verstehen.
Hierfür wünschte ich mir mehr Fachliteratur, die allerdings nur spärlich vorhanden ist. So musste ich in meiner therapeutischen Arbeit Therapiemethoden für diese Patientengruppe anpassen.
Zur Prüfung der Wirksamkeit therapeutischen Vorgehens, um neue Kollegen für die Arbeit mit dieser Patientengruppe zu gewinnen und die Versorgung der Patienten sicherzustellen, wünsche ich mir für die Zukunft diagnostische Verfahren, störungsspezifische psychotherapeutische Methoden und eine Berücksichtigung der Patientengruppe in der Therapieausbildung.
Inwieweit hat Sie Ihr Studium bzw. Ihre Ausbildung auf Ihre Arbeit mit Menschen mit Intelligenzminderung vorbereitet?
AK: Zugutekommt mir das in den Ausbildungen vermittelte umfangreiche entwicklungspsychologische und methodische Wissen für Kinder und Jugendliche. Häufig befinden sich die Erwachsenen, mit denen ich arbeite, sowohl emotional als auch sozial in einer Entwicklungsphase, die ansonsten im Kindes- oder Jugendalter durchlaufen wird. Das für Kinder vorhandene Material zur Psychoedukation ist sprachlich häufig so gestaltet, dass es sich gut an meine Arbeit anpassen lässt. Wichtig in der Umsetzung ist mir, dass die Ansprache erwachsenengerecht ist, aber Erklärungen möglichst einfach dargestellt und in leichter Sprache formuliert sind. Die erlernten überwiegend verhaltenstherapeutischen Methoden und Techniken lassen sich für Erwachsene mit geistiger Behinderung entsprechend modifizieren und anwenden. Hier kann ich auch von meinen Erfahrungen aus der Behindertenhilfe profitieren.
Leider wurde zum Zeitpunkt meiner PT-Ausbildung dieser Personenkreis nicht im Curriculum berücksichtigt. So war es dem Engagement jedes*jeder Einzelnen überlassen, ob man auch diesen Menschen eine Therapie anbietet und eine*n entsprechende*n Supervisor*in dazu findet.
MR: Ich hatte das Glück, dass ich schon im Zivildienst in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet habe. Im Studium gab es dann die Möglichkeit, ein Praktikum in einer Schule für schwermehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche zu machen, unter guter Anleitung eines erfahrenen Kollegen. Durch das Projektstudium am damaligen Psychologischen Institut der FU bin ich mit Behinderung und deren Bearbeitung im Fach Psychologie intensiv in Kontakt gekommen. In der Psychotherapie-Ausbildung war ich dann wieder mit meinem Praxisfeld ein Exot, es gab kaum Literatur zum Thema.
DM: Während meines Psychologie-Hauptstudiums am FB 11 der FU-Berlin arbeitete ich im Rahmen der "ambulanten Hilfen" (die ich mit aufbaute, als Alternative zur davor üblichen Heimunterbringung) als Einzelfall- und Familienhelfer bei verschiedenen Berliner Bezirksämtern. Ich beschäftigte mich - auch bei der Recherche für meine Diplomarbeit - mit der Behinderten-Pädagogik von Dr. Wolfgang Jantzen[2]. Parallel hatte ich den nächsten Einsatz als Einzelfallhelfer bei einer alleinstehenden Mutter (Ende 50, Hausfrau, Witwe) und deren ca. 15-jährigen Sohn mit mittelgradiger Intelligenzminderung. Die Intelligenzminderung war auf einen Sauerstoffmangel während der Geburt zurückzuführen.
Aufgrund der o. g. Behinderten-Pädagogik von Jantzen, der u. a. Vygotzkij[3] und den Neurologen Luria[4] zitiert – Luria beschrieb bereits in den 70er Jahren die Neuroplastizität des Gehirns, d. h. die Aufgabe beschädigter Hirnbereiche kann mit entsprechender Förderung von anderen Hirnbereichen übernommen werden – war ich von der Lernfähigkeit des Jugendlichen mit IM überzeugt. Die heutige Hirnforschung und auch die Forschung im Bereich Traumatherapie bestätigt die Neuroplastizität des Gehirns, allerdings wird heute eingeschränkt, dass nur die benachbarten Hirnareale mit entsprechender Förderung die Aufgabe beschädigter Hirnbereiche übernehmen können[5]. Die Voraussetzung ist eine tragfähige therapeutische, bzw. pädagogische Beziehung (Bindung). Ich förderte ihn in den verschiedensten Lebensbereichen - u. a. vermittelte ich ihm spielerisch, zählen zu lernen oder sich an Piktogrammen zu orientieren. Er hatte eine sehr gute räumliche Orientierung sowohl im näheren Wohnumfeld als auch – wie sich zufällig herausstellte – bezüglich neuer Wege, auf denen er zuvor nur einmal in Begleitung unterwegs war (nach einem Besuch auf der "Grünen Woche" auf dem Messegelände, wo ich damals mit meinem PKW über die Stadtautobahn von Reinickendorf hinfuhr, hatte er sich den Weg eingeprägt (gelernt)). Er ging dann ein paar Tage später zu Fuß auf der Stadtautobahn, "um die Tiere wieder zu sehen". Glücklicherweise verlief alles glimpflich, die Polizei brachte ihn nach Hause. Für mich war die offensichtlich interessengeleitete Lernfähigkeit, sich den Weg so schnell zu merken, bemerkenswert.
ID: Während meines Studiums und im Rahmen der Therapieausbildungen wurde die Patientengruppe thematisch nicht behandelt. Dadurch, dass ich mit dieser Patientengruppe schon gearbeitet habe, fiel es mir nicht schwer, innerhalb der Therapieausbildung erlernte Methoden auf diese spezielle Patientengruppe anzuwenden. Dabei stützte ich mich auf Bilder, einfache Sprache und Metaphern, um den Patienten das therapeutische Vorgehen zu verdeutlichen. Als besondere Herausforderung betrachtete ich den Transfer in den Alltag der Patienten. Hier waren tägliche Übungen und Wiederholungen zwingend erforderlich, um neue Verhaltensweisen zu etablieren und zu festigen. Das Lebensumfeld der Patienten mit einzubeziehen (Mitarbeiter der Eingliederungshilfe, Angehörige), war häufig sehr sinnvoll. Manchmal ließen sich durch veränderte Reaktionen der Mitarbeiter verändertes Verhalten bei den Patienten hervorrufen, die oft nicht in der Lage waren bzw. sich nicht zugetraut hätten, anders zu handeln.
Was macht Ihre Arbeit spannend und interessant?
MR: Die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen ist immer wieder eine neue Herausforderung. Es gilt, sich auf jeden Menschen individuell einzustellen, in seiner kognitiven, emotionalen und verbalen Ausdrucks- und Verarbeitungsfähigkeit; und dann gemeinsam Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten. In der Therapie sehe ich meine Aufgabe, in Kontakt mit dem*der Klient*in, die belastenden Entwicklungs- und aktuelle Lebensfaktoren zu erkennen, mögliche alternative Entwicklungsmöglichkeiten gemeinsam zu entwickeln, z. B. bei herausfordernden Verhaltensweisen. Dies kann nur in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung gelingen, die niedrigschwellig aufgebaut werden muss. Der Leidensdruck kann dabei von dem*der Klient*in, aber auch vom System ausgehen. So benötigen auch die betreuenden Kolleg*innen im Umfeld des*der Klient*in oft Unterstützung in Form von systemischer Fachberatung, aber auch Reflexion ihres Tuns.
Ich bin für viele Menschen in verschiedenen Wohngruppen über Berlin verteilt zuständig, das Fahren durch Berlin ist dabei manchmal anstrengend. Einige Klient*innen können aber auch mit einem Fahrdienst in mein barrierefreies Büro kommen.
Was ich faszinierend und damit auch interessant für Kolleg*innen finde, dass es manchmal eine besondere Form des Kontaktes, z. B. einfache Sprache oder auch mehr Zeit für den Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung benötigt, als es eventuell mit Menschen ohne Behinderung notwendig ist. Psychische Erkrankungen treten auch bei Menschen mit Behinderungen auf, wie Neurosen, Ängste, Zwänge, aber auch traumatische Ereignisse im Lebenslauf mit PTBS, oder psychiatrische Erkrankungen wie Psychosen, aber auch besondere Behinderungen wie z. B. Autismusspektrumsstörung. Es geht immer darum, die Ebene des Kontaktes zu finden, die Person ernst zu nehmen, dass es gelingen kann, in und mit der therapeutischen Beziehung Entwicklung anzuregen. Die „Therapiesprache“ kann einfache Sprache sein, die Beziehung des Therapeuten kann sich in Analogie zu emotionalem Ausdruck, der sich u. U. auf der Entwicklungsstufe eines Kleinkindes befindet, verhalten, aber immer mit dem Respekt und auf Augenhöhe mit dem Wissen, es mit einem erwachsenen Menschen zu tun zu haben, der eine Erwachsenen-Biographie lebt. Die therapeutische Begleitung von Menschen mit Behinderung, meist über längere Zeit, ist vielfältig individuell und bringt meist viel Entwicklung mit sich, oft nur in kleinen Schritten, aber nachhaltig. Ich lerne dabei auch viel über mich.
Was sollte aus Ihrer Sicht zukünftig in der Ausbildung junger Kolleg*innen Berücksichtigung finden?
AK: Mir bereitet diese Arbeit sehr viel Freude. Ich möchte Mut machen, sich in der therapeutischen Arbeit diesem Personenkreis auch ohne große Vorerfahrungen zu öffnen und eigene Erfahrungen zu sammeln. Wie in jedem therapeutischen Prozess kommt es zunächst darauf an, den Menschen und seine Lebenswirklichkeit zu verstehen, die Ressourcen und Schwierigkeiten kennenzulernen und eine gute therapeutische Beziehung herzustellen, um dann das in Studium und Ausbildung vermittelte therapeutische Vorgehen an den jeweiligen Menschen und seinen Kontext anzupassen. Die Arbeit mit dieser Patient*innengruppe wird sich sicherlich auch bereichernd auf die weitere psychotherapeutische Arbeit im Allgemeinen auswirken.
Universitäten sowie Aus-/Weiterbildungsstätten sollten sich diesem Personenkreis verstärkt öffnen, und Wissen z. B. über mögliche abweichende Erscheinungsformen psychischer Erkrankungen bei Menschen mit geistiger Behinderung, über spezielle diagnostische Verfahren (z. B. Entwicklungsdiagnostik) und über mögliche Unterschiede in den Lebenswelten zu vermitteln. Nur so besteht die Chance, diesem vernachlässigten Personenkreis ein gutes Angebot zu unterbreiten und eine größere Versorgungssicherheit herzustellen.
MR: An den Universitäten und Weiterbildungsstätten sollten die modernen Erkenntnisse von Diagnostik und Behandlung am besten von Praktikern gelehrt werden, die es inzwischen für diesen Personenkreis gibt, um den Zugang und die Therapie zu Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu verbessern. Und dann ist das Wichtigste in diesem Praxisfeld die Praxis. Von Kollegen höre ich, dass sie Berührungsängste haben, und sich die Arbeit schwer vorstellen. Da schwingen unbewusste Abwehrmechanismen und Fremdheitsgefühle mit. Die Arbeit ist zwar durch das Umfeld oft komplexer und vielschichtiger, aber nicht so sehr verschieden von der Arbeit eines Kollegen in einer Praxis. Deshalb sollten Praktika in Einrichtungen der Behindertenhilfe/Eingliederungshilfe unbedingt dazu gehören, um die Barrieren im Kopf abzubauen; denn kaum eine andere Gruppe von Menschen bekommt einen so geringen Zugang zur Psychotherapie, der so viel für diese Menschen bringen kann.
DM: Ich möchte zur Psychotherapie mit Patienten mit IM ermutigen: M. E. ist eine essentielle Voraussetzung für die Psychotherapie mit diesem Personenkreis, diese im jeweiligen Wohnumfeld/Lebensbereich entweder in Form von Praktika oder eines praktischen Jahrs kennenzulernen.
Wie für jede Psychotherapie ist der Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung besonders wichtig – dann kann die Arbeit sehr vielseitig und interessant sein und erfolgreich verlaufen.
ID: Ausgehend von den früheren Annahmen, dass Patienten mit Intelligenzminderung therapeutisch nicht erreichbar wären, habe ich ganz andere Erfahrungen gesammelt. Daher wünsche ich mir eine Berücksichtigung dieser Patientengruppe in den psychotherapeutischen Ausbildungen und möchte mich dafür einsetzen. Forschungen an Universitäten zur Wirksamkeit und Nutzen therapeutischer Verfahren für Menschen mit Intelligenzminderung würden zukünftigen und auch niedergelassenen Therapeuten von der Sinnhaftigkeit und dem Erfolg der therapeutischen Arbeit mit dieser Patientengruppe überzeugen können.
Dies könnte ein Beitrag mehr Kollegen für die Arbeit mit dieser Personengruppe zu gewinnen und die therapeutische Versorgung der Patienten zu verbessern.
Zusammenfassung
Umfragen unter Psychotherapeuten zeigen zum Teil ähnliche Punkte nötiger Veränderungen auf: es besteht sowohl eine fehlende Nachfrage durch die Betroffenen als auch eine unzureichende Erfahrung von Kolleg*innen in der Psychotherapie von Menschen mit Intelligenzminderung oder die Annahme, dass das eingesetzte Verfahren als ungeeignet eingeschätzt wird. Es ist daher anzunehmen, dass Fachkräfte, Angehörige und v. a. Betroffene selbst stärker über das Auftreten von psychischen Störungen bei Menschen mit Intelligenzminderung aufgeklärt werden müssen. Zugangswege zur Psychotherapie sind barrierefrei zu gestalten, z. B. als Info-Broschüren in leichter Sprache über die Psychotherapeutenkammern. Vor allem aber ist das Thema in der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeut*innen dringend zu stärken. Entsprechend der aktuellen Musterweiterbildungsordnung sind sowohl für den*die Fachpsychotherapeut*in für Kinder und Jugendliche als auch den*die Fachpsychotherapeut*in für Erwachsene Handlungskompetenzen in der Behandlung psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Intelligenzminderung zu erwerben. Das ist in höchstem Maße zu begrüßen. In Einrichtungen der Behindertenhilfe können dabei bis zu 12 Monate der Weiterbildung absolviert werden. Sie werden damit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung psychotherapeutischer Kompetenzen und zukünftig damit zur verbesserten Versorgung der Patient*innen mit Intelligenzminderung leisten können.
Ebenfalls angesprochen sollte aber auch die universitäre Ausbildung sein. Die neue Approbationsordnung für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (PsychThApprO) weist die Möglichkeit, erste praktische Erfahrungen auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe als spezifischen Bereich der psychotherapeutischen Versorgung zu absolvieren, explizit aus. Ergänzungen braucht es in der Lehre, den praktischen Übungen und Seminaren, so dass Erfahrungen in der berufsqualifizierenden Tätigkeit für Studierende nicht als Solitär bestehen. Es muss Ziel sein, theoretische und praktische Ausbildung zukünftiger Psychotherapeut*innen zur Psychotherapie bei Menschen mit Intelligenzminderung bereits an den Universitäten integrativ zu vermitteln. Das ermöglicht hoffentlich auch den Anstoß zukünftiger Forschungstätigkeit in dem Bereich, welche umfassend fehlt. Die Mediziner*innen-Ausbildung muss hier Vorbild sein, in der die Universität Bielefeld 2022 die erste Professur für „Medizin für Menschen mit Behinderung, Schwerpunkt, psychische Gesundheit“ eingerichtet hat.
D. h. es braucht unser Engagement als Berufsgruppe an den Universitäten, den Ausbildungsstätten und den Weiterbildungsinstituten, zukünftigen Kolleg*innen Wissen zur Psychotherapie von Menschen mit Intelligenzminderung und die Freude an der Arbeit mit dieser Patient*innengruppe zu vermitteln. Die neue Approbationsordnung und Musterweiterbildungsordnung bilden den Rahmen – es bleibt aber unsere Aufgabe, sie mit Leben zu füllen.
Im Arbeitskreis der Berliner Psychotherapeutenkammer ‚Psychotherapie für Menschen mit Lernschwierigkeiten/Intelligenzminderung‘ haben es sich engagierte Kolleg*innen zur Aufgabe gemacht, dieses Anliegen berufspolitisch zu unterstützen und sich hierzu auch deutschlandweit zu vernetzen. Hierbei hat die Berliner Kammer als eine der wenigen Kammern in Deutschland auch das Amt der Inklusionsbeauftragten (ehemals Behindertenbeauftragen) geschaffen. Es wird derzeit durch Frauke Reiprich, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, bekleidet. Die Inklusionsbeauftragte möchte sowohl Ansprechpartnerin für Kolleg*innen mit Fragen zur Psychotherapie für Menschen mit Behinderung als auch für Kolleg*innen oder Patient*innen mit Behinderung sein. Das Vorhaben, Informationen über den Zugang zur Psychotherapie für Menschen mit Lernschwierigkeiten/Intelligenzminderung barriereärmer zu gestalten, zählt aktuell zu den wichtigen Anliegen der Inklusionsbeauftragten.
Quellen:
BRK, U. B. (2006). Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom, 13, 1419-57. https://www.un.org/depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf, Abruf am 28.10.2023
DGPPN (2019) Positionspapier „Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung“ mit dem Titel „Zielgruppenspezifische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen - Situation, Bedarf und Entwicklungsperspektiven“ https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/5311574f4e6d020a1a6d42eb14b4… Abruf am 28.10.2023
Metaxas, C., Wünsch, A., & Nübling, T. S. R. (2014). Ambulante Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung. Zur aktuellen Versorgungslage in Baden-Württemberg. Psychotherapeutenjournal, 2(2014), 122-130
Stünkel-Grees, N., Clausen, J., & Wünsch, A. (2018). Ambulante Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Praxis Der Kinderpsychologie Und Kinderpsychiatrie, 67(3), 224-238.
Fußnoten:
[1] Meyer, Detlef – „Psychotherapie mit einem Patienten mit Intelligenzminderung und sexuell deviantem Verhalten“ – ein Fallbericht – in Psychotherapeutenjournal 3/2019 – S. 306 - 308
[2] Wolfgang Jantzen: „Behindertenpädagogik Persönlichkeitstheorie Therapie“ / Grundriß einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie
[3] Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ Vygotskij, Lev S. (1932-34/2005). Das Problem der Altersstufen. In: Ausgewählte Schriften (S. 53–90). Band 2.
[4] Luria, A. R. „Die höheren kortikalen Funktionen des Menschen und ihre Störung bei örtlicher Hirnschädigung“
[5] Roth, Gerhard / Egle, Ulrich T. – „Neurobiologisch fundierte Psychotherapie bei Trauma und Schmerz“