Der Herbst steht nicht nur vor der Tür – in den vergangenen Wochen hat er sich in Berlin schon deutlich bemerkbar gemacht. Die ideale Zeit also, um es sich nach der Arbeit mit einer Tasse Tee und einem guten Buch im Lesesessel gemütlich zu machen. In dieser Ausgabe stellen wir Ihnen drei besondere Bücher vor, die ganz unterschiedliche Facetten psychologischer, gesellschaftlicher oder therapeutischer Themen beleuchten – mal historisch, mal literarisch, mal analytisch. Vielleicht ist ja etwas dabei, das Sie in und durch den Herbst begleitet.
„Totmannalarm – Begegnungen mit Straftätern | Intensive Geschichten aus der geschlossenen Welt der Forensischen Psychiatrie“ von Karoline Klemke (dtv)
Mit „Totmannalarm“ hat die Berliner Psychotherapeutin Karoline Klemke einen eindrucksvollen Debütroman vorgelegt, der sich an der Schnittstelle zwischen literarischer Fiktion und fachlich fundierter Fallbeschreibung bewegt.
Im Mittelpunkt von „Totmannalarm“ steht die junge Therapeutin Christiane Richter, die ihre Arbeit im Maßregelvollzug aufnimmt – dort, wo Straftäter*innen mit schweren psychischen Störungen untergebracht sind. Der Roman basiert auf Klemkes beruflichen Erfahrungen, verarbeitet jedoch die geschilderten Fälle in literarisch verfremdeter Form.
In kurzen, intensiven Kapiteln schildert die Autorin Begegnungen mit Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben – darunter Sexualstraftäter und Mörder*innen –, und beleuchtet zugleich den inneren Prozess der Therapeutin, die zunehmend mit den emotionalen und moralischen Herausforderungen ihres Berufs konfrontiert wird. Die Stärke des Buches liegt dabei weniger in der spektakulären Darstellung von Taten als in der psychologisch nuancierten Annäherung an Täter*innenpsychen und professionelles Handeln unter Extrembedingungen.
Klemke gelingt es, die beklemmende Atmosphäre einer forensischen Einrichtung realistisch einzufangen. Ihre Protagonistin bewegt sich zwischen Empathie, professioneller Distanz und dem ständigen Kampf, sich selbst nicht zu verlieren. Die therapeutische Arbeit wird nicht verklärt, sondern als kräftezehrender Aushandlungsprozess dargestellt. Besonders die Frage, wie man mit Menschen arbeitet, die Unfassbares getan haben, zieht sich leitmotivisch durch den Roman.
Dass „Totmannalarm“ literarisch zwischen Roman, Erfahrungsbericht und psychologischem Protokoll oszilliert, macht es schwer einzuordnen – und gerade deshalb interessant. Klemke bringt große Sachkenntnis ein, ohne belehrend zu wirken. Vielmehr eröffnet sie einen seltenen Einblick in ein hochspezialisiertes Feld psychotherapeutischer Arbeit, das sonst weitgehend im Verborgenen bleibt. Dabei stellt sie nicht nur die Täter*innen in den Fokus, sondern auch die Frage, wie sich diese Arbeit auf diejenigen auswirkt, die tagtäglich damit konfrontiert sind.
„Totmannalarm“ ist ein aufwühlender, kluger und vielschichtiger Roman, der sichtbar macht, was sonst verborgen bleibt. Wer bereit ist, sich auf diese intensive Lektüre einzulassen, wird nicht nur ein tiefes Verständnis für forensisch-therapeutische Arbeit gewinnen, sondern auch lange über die moralischen und gesellschaftlichen Fragen nachdenken, die dieses Buch aufwirft.
Kate Summerscale: „Das Buch der Phobien & Manien - Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen“ (Klett-Cotta)
In essayistisch-anekdotischem Stil blickt die Autorin in diesem Sachbuch auf Phobien und Manien als Spiegelbilder ihres Zeitalters Wechselspiel zwischen Innenleben und äußerer Ordnung.
Mit ihrem Sachbuch widmet sich die britische Autorin Kate Summerscale den Abgründen menschlicher Ängste und Obsessionen – akribisch und literarisch versiert. Die vielfach ausgezeichnete Journalistin beleuchtet hier 99 Formen von Phobien und Manien – von der Angst vor Telefonaten bis zum Zwang zur übermäßigen Selbstreflexion.
Statt aber eine systematische psychologische Einordnung zu liefern, verfolgt Summerscale einen essayistisch-anekdotischen Zugang. Ihre Stärke liegt im Aufspüren kulturgeschichtlicher und gesellschaftlicher Kontexte, in denen bestimmte Ängste auftauchen – und wieder verschwinden. Phobien und Manien sind für sie Spiegelbilder ihres Zeitalters. Der Moment, in dem sie benannt werden, sagt meist mehr über das kollektive Selbstverständnis als über die individuelle Psyche aus.
Summerscale greift auf eine Fülle historischer Quellen zurück – insbesondere aus dem 18. und 19. Jahrhundert –, mit denen sie die Entwicklung der Begriffe, Deutungen und Zuschreibungen nachzeichnet. Phobie, einst Bezeichnung körperlicher Symptome, entwickelte sich zur Beschreibung irrationaler Ängste; Manie wandelte sich vom Ausdruck modischer Marotten zur medizinischen Diagnose affektiver Störungen.
In kurzen Kapiteln werden extreme wie auch alltäglichere Fälle aufgeführt: die Angst vor Knöpfen, vor Spinnen, vor dem eigenen Heim oder gar vor Eiern. Dabei zeigt sich, wie stark solche Empfindungen die Lebensführung einschränken können. Summerscale erinnert etwa an Steve Jobs, der Knöpfe so sehr mied, dass er technisches Design danach ausrichtete.
Neben den individuellen Geschichten schärft Summerscale den Blick für kollektive Phänomene: Sie beschreibt etwa, wie im 19. Jahrhundert die medizinische Beschäftigung mit Neurosen regelrecht zur Obsession wurde, oder wie sich aus manischen Kollektivzuständen auch revolutionäre Energien entwickeln konnten. Der Fokus liegt stets auf dem Wechselspiel zwischen Innenleben und äußerer Ordnung.
Das Buch ist ein ebenso kluges wie unterhaltsames Werk über die feinen Risse in der menschlichen Normalität – und darüber, wie sehr unsere Ängste von der Zeit geprägt sind, in der wir leben.
„Verlust – Ein Grundproblem der Moderne“ von Andreas Reckwitz (Suhrkamp)
Bei „Verlust“ handelt es sich um das vielleicht umfassendste soziologische Werk zur Thematik des Verlusts in westlichen Gesellschaften – ein Thema, das angesichts klimatischer, politischer und kultureller Umbrüche aktueller kaum sein könnte.
Mit "Verlust" legt der Soziologe Andreas Reckwitz eine ambitionierte wie tiefgründige Analyse der Gegenwart vor. Reckwitz' zentrale These lautet: Die Moderne, angetrieben vom Glauben an stetigen Fortschritt, hat seit dem 18. Jahrhundert eine ambivalente Haltung zum Verlust entwickelt – eine „Verlustparadoxie“.
Während die Moderne verspricht, Verluste durch Wissenschaft, Technik und sozialen Wandel zu minimieren, erzeugt sie gleichzeitig neue Formen des Verlusts: das Verschwinden vertrauter Lebenswelten, die Erosion gesellschaftlicher Ordnung, die Entfremdung im Zuge ökonomischer Rationalisierung. Diese Dynamik, so Reckwitz, gerät in der spätmodernen Gegenwart zunehmend aus dem Gleichgewicht. Der Fortschrittsoptimismus bröckelt, und damit auch die Fähigkeit der Gesellschaften, Verluste zu verdrängen oder produktiv zu bewältigen.
Reckwitz’ Darstellung ist keine kulturpessimistische Klage, sondern eine präzise Analyse, die sich von der industriellen Moderne bis zur heutigen Spätmoderne erstreckt, in der sich die „Verlusteskalation“ offenbart: Der Glaube an eine stetige Verbesserung der Zukunft wird von kollektiven Enttäuschungen erschüttert.
Reckwitz regt dazu an, Verlust nicht länger als bloßes Scheitern des Fortschritts zu betrachten, sondern als Bestandteil eines notwendigen Reifungsprozesses der Moderne. Sein Plädoyer lautet, sich als Gesellschaft erwachsen mit Verlust auseinanderzusetzen – nicht regressiv, nicht resignativ, sondern selbstreflexiv und konstruktiv.
Verlust ist damit mehr als eine soziologische Bestandsaufnahme – es ist ein Denkanstoß von großer analytischer Schärfe und Relevanz. Wer dieses Buch liest, wird nicht nur die gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungen besser verstehen, sondern auch erkennen, wie eng unser Zukunftsbild mit dem Umgang mit Verlusten verknüpft ist.
Autorin: Nicole Sagener