Die Psychotherapie hängt in der Warteschleife, Reformen in der psychischen Gesundheitsversorgung sind dringend notwendig, mahnt Eva Schweitzer-Köhn, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Berlin. Ein Gespräch über realistische Bedarfsplanung, weniger Bürokratie und die drängende Frage der Weiterbildungsfinanzierung.
Eva Schweitzer-Köhn ist Psychologische Psychotherapeutin und Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Berlin.
Frau Schweitzer-Köhn, die schwarz-rote Regierungskoalition will die psychotherapeutische Versorgung in der Fläche und in Akutsituationen stärken – ein wichtiges Anliegen. Der Fachkräftemangel spitzt sich weiter zu und derzeit betragen die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz in Deutschland durchschnittlich 20 Wochen. Welche Schritte sollte die neue Regierung prioritär einleiten, um die Versorgung psychisch erkrankter Menschen spürbar zu verbessern?
Eva Schweitzer-Köhn: Als erstes sollte die eigene Bedarfsplanung für Kinder und Jugendliche umgesetzt werden. Für Kinder ist es noch herausfordernder, lange Wege zur Psychotherapie zurückzulegen. Deshalb wäre diese Maßnahme vorrangig. Die ambulante Versorgung in der Fläche hat sich in Berlin durch den Letter of Intent zwischen KV, Krankenkassen und Senatsverwaltungsverwaltung für Gesundheit und Soziales aus 2013 verbessert, der einen Praxisumzug über Bezirksgrenzen hinweg nur dann ermöglicht, wenn er von einem besser versorgten in einen schlechter versorgten Bezirk stattfindet („bergab“). Die Psychotherapeut*innen sind Spitzenreiter bei den Praxisteilungen, viele Praxen sind in unterversorgte Bezirke gezogen, sodass sich hier die Versorgung verbessert hat.
Trotzdem gibt es noch einen Mangel an Behandlungsplätzen…
Richtig, dieser zeigt sich bei den vielen Terminanfragen bei der Terminservicestelle, die nicht vermittelt werden können. Die Länder sollen laut Koalitionsvertrag künftig stärker in den Zulassungsausschüssen beteiligt werden und könnten hier Einfluss nehmen. Die Bedarfsplanung im Bereich der Psychotherapie basierte von Beginn an auf falschen Voraussetzungen, indem nach der Integration der Psychologischen Psychotherapeut*innen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen einfach zum Stichtag 31.08.1999 die bis dahin über die Übergangsregelung zugelassenen Psychotherapeut*innen als 100prozentig in der Bedarfsplanung festgelegt wurden. Die Übergangsregelung konnte aber realen Bedarf nicht darstellen.
Wie könnte eine realistische Bedarfsplanung aussehen?
Vor dem ersten Psychotherapeutengesetz 1998 gab es keine geregelten Bedingungen der Niederlassung, von daher konnte sich keine bedarfsgerechte Niederlassung bei den Psychotherapeut*innen entwickeln. Gut wäre eine prospektive Bedarfsplanung, die nicht die alten Verhältniszahlen immer weiter perpetuiert, sondern prospektiv den Bedarf für die Zukunft abschätzt.
Und wie schätzen Sie die Situation in der stationären Versorgung ein?
Auch in der stationären Versorgung sehen wir Handlungsbedarf. Es braucht dringend mehr Psychotherapeut*innen in Kliniken, damit einerseits allen Patient*innen psychotherapeutische Behandlung zukommen kann und andererseits der bedauerliche Fachkräftemangel im ärztlichen Bereich aufgefangen werden kann. Die Kliniken hätten jetzt schon die Möglichkeit der Anrechenbarkeit der ärztlichen und psychotherapeutischen Berufsgruppe in der PPP-RL - leider wird das noch wenig genutzt.
Eine zentrale Forderung der Psychotherapeut*innenschaft ist die gesetzlich geregelte Weiterbildungsfinanzierung. Wie kann dieses Vorhaben zügig und nachhaltig umgesetzt werden?
Es braucht eine gesetzliche Vorgabe für die Finanzierung der Weiterbildung, die regelt, wie Theorie, Supervision und Selbsterfahrung, die Bestandteile der Weiterbildung sind, finanziert werden sollen. Der Gesetzgeber hat die Weiterbildung geregelt und muss diese nun auch ermöglichen. Es kann nicht angehen, dass wie bisher in der Ausbildung Bestandteile der Weiterbildung von den Weiterzubildenden selbst finanziert werden. Weiterbildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, daher sehe ich hier den Gesetzgeber in der Pflicht.
Welche Folgen drohen durch Versorgungsengpässe und lange Wartezeiten?
Bei Versorgungsengpässen können sich Erkrankungen verschlimmern, chronifizieren. Es drohen Arbeitsunfähigkeitszeiten bis hin zu Frühverrentungen. Schon jetzt liegen psychische Erkrankungen in Deutschland an dritter Stelle der Ursachen für Krankheitstage im Beruf, im Jahr 2024 belegten bei einigen Krankenkassen psychische Störungen den zweiten Rang hinsichtlich der Fehlzeiten. Zudem sind sie die häufigste Ursache für Erwerbsminderungsrenten. Laut GKV ist jährlich etwa jeder vierte Erwachsene von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das könnte sich noch weiter verschlimmern. Abgesehen davon, dass das Leid vieler betroffener Menschen vermeidbar wäre, bringt dies auch einen volkswirtschaftlichen Schaden mit sich.
Die Psychotherapeutenkammern fordern auch eine eigene Bedarfsplanung für Kinder und Jugendliche. Warum ist diese Altersgruppe besonders unterversorgt – und was versprechen Sie sich von einer gesonderten Planung?
Die meisten psychischen Erkrankungen Erwachsener beginnen im Kindes- und Jugendalter. Von daher ist es sinnvoll, psychische Erkrankungen bereits mit Beginn im Kindes- und Jugendalter zu behandeln, bevor sie chronifizieren und Folgeschäden schon eingetreten sind. Dazu gehören unter anderem Leistungsabfall in der Schule, soziale Probleme, Rückzug, Verlust von sozialen Beziehungen.
Die gesonderte Planung sollte die Versorgung verbessern, wenn sie etwa kleinteiliger erfolgt und eine wohnortnahe Versorgung sicherstellt. Kinder können noch weniger als Erwachsene lange Wege zur Behandlung zurücklegen.
Auf der Prioritätenliste des BMG steht das intensiv diskutierte Primärversorgungssystem. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Psychotherapeutenkammern fordern, dass Patient*innen auch künftig weiterhin Psychotherapeut*innen ohne Überweisung aufsuchen können. Was spricht gegen eine Aufnahme in ein Primärversorgungssystem?
Psychische Probleme sind oft sensibel, manchmal schambesetzt und belastend. Es würde die Hürde zur Aufnahme einer Psychotherapie noch weiter erhöhen, wenn die Patient*innen ihre Beschwerden erst einer Primärärztin oder einem Primärarzt darlegen müssten und diese*n davon überzeugen müssten, dass sie zur Psychotherapie überwiesen werden sollen. Für die psychotherapeutische Versorgung wurde eigens die psychotherapeutische Sprechstunde eingerichtet, in der die Indikation für eine Psychotherapie festgestellt wird. Der „Umweg“ über Primärärzt*innen würde auch zusätzliche Kosten verursachen.
Das, was mit dem Primärarztsystem verhindert werden soll, nämlich Doppeluntersuchungen oder -behandlungen, trifft für die Psychotherapie gar nicht zu. Weil eine Psychotherapie bei der Krankenkasse beantragt und genehmigt werden muss, kann es gar keine Doppelbehandlung geben. Zudem haben wir einen Mangel an Haus- und Kinderärzt*innen. Wie sollen diese die zusätzlichen Termine für den psychotherapeutischen Bedarf noch bewältigen?
Viel diskutiert wird die Integration von digitalen Anwendungen und KI in die medizinische und psychotherapeutische Versorgung. Welche Chancen und Grenzen sehen Sie hierbei in der Psychotherapie?
In diesem Bereich befindet sich vieles noch in der Entwicklung und Forschung. Es gibt schon eine Reihe von digitalen Gesundheitsanwendungen für psychische Probleme von sehr unterschiedlicher Qualität. Für die Praxis finde ich es wichtig, dass wir uns, bevor wir die Verordnung einer digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) erwägen, mit den Inhalten wirklich auseinandersetzen und diese kennen.
Warum halten Sie das für essentiell?
DiGA müssen ‚nur‘ einen positiven Versorgungseffekt nachweisen, um verordnungsfähig zu sein, keine Wirksamkeit. Wir sehen jedenfalls, dass bei digitalen Anwendungen die Abbruchrate sehr hoch ist, wenn sie nicht begleitet werden. Das heißt, sie werden eher angenommen, wenn sie zusätzlich zu einer psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt und therapeutisch begleitet werden – wenn die Menschen damit also nicht allein gelassen werden.
Wie bewerten Sie den Einsatz von KI in der Psychotherapie?
Auch bezüglich Anwendungsmöglichkeiten künstlicher Intelligenz in der Psychotherapie wird geforscht. Es ist sehr wichtig, dass der Nutzen und vor allem der mögliche Schaden sehr genau untersucht werden. Der Einsatz von KI in der Psychotherapie muss reguliert werden, um Schaden zu vermeiden, daran arbeiten wir in einer Kommission der BPtK und in der Berliner PtK. Die Verantwortung für eine Anwendung muss letztendlich immer beim*bei der Psychotherapeut*in liegen.
Die Psychotherapeut*innenschaft fordert einen spürbaren Bürokratieabbau. Was müsste sich ändern, damit mehr Zeit für Patient*innen bleibt – und weniger Aufwand für Gutachten und Verwaltung nötig ist?
Das Antrags- und Gutachterverfahren könnte digitalisiert werden. Es wirkt wirklich altertümlich, dass wir hier immer noch mit Papier und Briefen arbeiten. Vor allem aber sollte das geplante DeQS-Verfahren - das Qualitätssicherungsverfahren, das gerade in Nordrhein-Westphalen erprobt wird, bevor es 2031 bundesweit ausgerollt werden soll - einer „Bürokratiesinnüberprüfung“ unterzogen werden. Nach übereinstimmender Expert*innenmeinung würde dieses geplante Verfahren nicht zu einer Verbesserung der Qualität führen, sondern zu einer sinnlosen Belastung für die Praxen. Psychotherapeut*innen unternehmen auch jetzt schon viele Anstrengungen zur Qualitätssicherung in Form von Intervision, Supervision, Fortbildung, Qualitätszirkeln oder anderen Formen der internen Qualitätssicherung. All diese Maßnahmen können die Qualität der Behandlung tatsächlich verbessern, weil sie direkte Rückmeldungen noch während der Behandlung geben. Das DeQS tut dies nicht, ist aufwändig und teuer und sollte abgeschafft werden.
Psychotherapie soll barrierefreier und inklusiver werden – auch durch kulturelle Öffnung und sprachliche Vermittlung. Wie lässt sich ein diverses, zugängliches Versorgungssystem erreichen?
Wir bilden die Kolleg*innen fort in kultursensibler Psychotherapie, aber auch für die Behandlung von trans* Personen. Ich denke, dass wir damit einen guten Beitrag leisten zur kulturellen Öffnung der psychotherapeutischen Behandlung. Die Finanzierung der Sprachmittlung ist häufig ein Problem, auch hier braucht es gesetzliche Regelungen, die wir schon lange fordern. Zudem braucht es sicher auch hier noch Fortbildungen zur Arbeit mit Sprachmittler*innen, mit einem*r Dritten im Therapiegeschehen. Auch dazu gibt es bereits einige Angebote.
Prävention gilt als Schlüssel zur Stärkung psychischer Gesundheit. Was braucht es, damit psychische Gesundheit als Querschnittsaufgabe in allen Politikfeldern etabliert wird – vom Bildungsbereich bis zum Arbeitsschutz?
Präventive Maßnahmen sollten viel mehr entwickelt, gefördert und finanziert werden, um psychische Belastungen zu verringern und die Entstehung von psychischen Störungen von vorneherein zu vermeiden. Das betrifft den Bereich Schule, die Arbeitswelt, aber auch spezifische Situationen, etwa im Kontext von Migration. Psychotherapeut*innen können hier ihre Expertise gut einbringen. Das sollte in den entsprechenden Politikfeldern ankommen und berücksichtigt werden.
Bisher stehen alle Koalitionsvorhaben unter Finanzierungvorbehalt. In welchen Bereichen muss die Berufsgruppe der Psychotherapeut*innen besonders für politische Priorisierung werben?
Besonders wichtig ist natürlich die Finanzierung der Weiterbildung, damit die Fachkräfte jetzt ausgebildet werden, die wir in der Zukunft brauchen. Rund 40 Prozent der Psychotherapeut*innen in Berlin sind 60 und mehr Jahre alt, werden also in den kommenden Jahren in den Ruhestand gehen. Die Weiterbildung dauert fünf Jahre - also müssen wir jetzt damit beginnen, damit nicht in fünf Jahren eine schmerzhafte Lücke entsteht.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Nicole Sagener.