Wie greift der neue Koalitionsvertrag die Bedarfe der psychotherapeutischen Profession auf? Welche Weichen müssen jetzt gestellt werden – für Weiterbildung, Digitalisierung, Versorgungsgerechtigkeit? Bei der 93. Delegiertenversammlung der Psychotherapeutenkammer Berlin am 24. Juni standen zentrale gesundheitspolitische Fragen der Zukunft im Mittelpunkt.
Am 24. Juni 2025 trat die Psychotherapeutenkammer Berlin zu ihrer 93. Delegiertenversammlung (DV) zusammen – in einer Zeit großer politischer und gesundheitspolitischer Umbrüche. Im Fokus standen die Herausforderungen und Chancen, die sich durch den Koalitionsvertrag von SPD und Union ergeben, ebenso wie die Themen Weiterbildung, Digitalisierung, Versorgungssicherheit und psychosoziale Notfallhilfe.
Psychotherapie im Koalitionsvertrag – Anerkennung und Verantwortung
Ein zentrales Thema war die politische Lage, die PtK-Präsidentin Eva Schweitzer-Köhn zusammenfasste: Die neue Regierung habe ein klares Zeichen gesetzt – der Koalitionsvertrag widmet sich explizit der psychotherapeutischen Versorgung mit einem eigenen Abschnitt mit eigener Überschrift. „Die Bundesregierung ist jetzt am Zug, ihren Worten Taten folgen zu lassen“, betonte Schweitzer-Köhn.
Besonders begrüßt die Kammer, dass die Bedarfsplanung für Kinder und Jugendliche sowie für den ländlichen Raum angepasst und kleinteiliger gestaltet werden soll. Auch die im Koalitionsvertrag benannte Strategie zur psychischen Gesundheit junger Menschen – mit Schwerpunkten auf Prävention, Früherkennung und elternnaher Beratung – langfristig Strukturen zu etablieren, die psychische Erkrankungen frühzeitig in den Fokus nehmen, könnte eine Chance für eine bessere Versorgung darstellen. Die konkrete Ausgestaltung bleibt zu beobachten und mitzugestalten.
Weiterbildung: Warten auf Finanzierung
Wenig erfreulich zeigt sich dagegen die aktuelle Situation zur psychotherapeutischen Weiterbildung. Zwar bekennt sich der Koalitionsvertrag zur Sicherstellung ihrer Finanzierung – in der aktuellen Prioritätenliste des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) fehlt sie jedoch. Ohne eine Klärung drohe Fachkräftemangel, betonte Eva Schweitzer-Köhn: „Wir müssen weiter auf die Dringlichkeit hinweisen und um politische Priorisierung werben.“
Aus dem Vorstand berichtete Ronald Schelte über die Berliner Aktivitäten zur Etablierung modellhafter Weiterbildungsangebote: In enger Zusammenarbeit mit Senatsdienststellen gibt es einen Austausch über mögliche Projekte, etwa in der Erziehungs- und Familienberatung und im öffentlichen Gesundheitsdienst. Auch im Krankenhausbereich werden Pilotprojekte angestrebt, um die stationäre Weiterbildung zu ermöglichen.
Primärarztsystem: Direktzugang zur Psychotherapie muss erhalten bleiben
Der Koalitionsvertrag sieht ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Ärzt*innenwahl vor. Die Primärärzt*innen oder die 116117 soll den medizinisch notwendigen Bedarf feststellen und zum*zur Fachärzt*in überweisen. Die Psychotherapeut*innen sind an der Stelle nicht genannt. Es wird unbedingt in folgenden Gesetzgebungsverfahren darauf zu achten sein, dass der Direktzugang zur Psychotherapie erhalten bleibt, keine weiteren Hürden beim Zugang zur Psychotherapie aufgebaut werden. Psychotherapeut*innen stellen die Indikation für eine Psychotherapie in der psychotherapeutischen Sprechstunde, die extra dafür geschaffen wurde.
Digitalisierung: Zwischen Aufbruch und Überforderung
Ein weiteres zentrales Thema des Abends war die rasante Digitalisierung im Gesundheitswesen – ein Bereich, in dem laut Koalitionsvertrag auch für die Psychotherapie ein starker Fokus vorgesehen ist. Schweitzer-Köhn beschrieb die Dynamik mit den Worten: „Die Entwicklung schreitet hier derart schnell voran, dass man kaum noch vor die Welle kommen kann.“
Die Kammer registriert zahlreiche Anfragen von Medien und Industrie zu digitalen Anwendungen und KI-gestützten Tools in der Psychotherapie. Die Kommission Digitalisierung der Kammer arbeitet bereits intensiv an einer Veranstaltungsreihe zu diesem Thema. Ziel sei es, so Schweitzer-Köhn, Digitalisierung „ethisch fundiert und praktisch nutzbar“ zu gestalten.
Die Digitale Agenda 2030, ein gemeinsames Vorhaben mit der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), soll eine professionsinterne Positionierung ermöglichen und Impulse für eine gesundheitsgerechte Digitalisierung setzen. Niedrigschwellige Online-Beratung, digitale Gesundheitsanwendungen, verbesserte Rahmenbedingungen für Videosprechstunden und Telemonitoring sind im Koalitionsvertrag angesprochen und sollen in unterversorgten Regionen und Akutsituationen die Versorgung verbessern, so hofft offenbar die Regierung. Ob diese Hoffnung aufgeht, darf bezweifelt werden. Wir werden die Entwicklung kritisch begleiten. Es darf z.B. nicht zu einer „2-Klassen-Versorgung“ kommen, etwa auf dem Land nur digital, nur in Ballungsgebieten gäbe es Psychotherapie in direktem Kontakt.
Versorgungswerk: Fortschritte auf der Suche nach dem besten Modell
Ein weiterer bedeutender Tagesordnungspunkt war die Frage der Altersversorgung. Schweitzer-Köhn berichtete hier für die Kammerkommission „Versorgungswerk“ über eine Reihe von Gesprächen mit etablierten Versorgungswerken – darunter die Bayerische Versorgungskammer, das Psychotherapeutenversorgungswerk Niedersachsen, das Psychotherapeutenversorgungswerk NRW, die Apothekerversorgung Berlin und die Ärzteversorgung Berlin. Ziel ist es, eine fundierte Empfehlung für Vorstand und Delegiertenversammlung zu entwickeln. Bei der nächsten Kommissionssitzung Anfang Juli 2025 sollen die Ergebnisse ausgewertet und Kriterien entwickelt und priorisiert werden – eine Entscheidung soll möglichst im Herbst getroffen werden.
Psychosoziale Notfallversorgung: Der Rahmen steht – die Rolle ist noch unklar
Kammer-Vizepräsidentin Dr. Lea Gutz präsentierte den aktuellen Stand zur Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV). Seit August 2021 regelt das gleichnamige Gesetz in Berlin die kurzfristige, nicht-therapeutische Unterstützung von Betroffenen nach Unglücks- und Notfallereignissen. Seit 2025 gibt es zudem einen Landesbeauftragten für PSNV sowie einen ressortübergreifenden Beirat, der unter anderem Schnittstellen zur langfristigen Versorgung ausbauen soll.
Trotz der Fortschritte bleibt die Rolle der Psychotherapeut*innen im System der PSNV bislang noch unklar. Ihre Einbindung in Prävention, Akut- und Regelversorgung muss laut Gutz „klar und verbindlich geregelt werden – auf Bundes- wie auf Landesebene“.
Fazit: Wir bleiben vorsichtig optimistisch
Die 93. Delegiertenversammlung der Psychotherapeutenkammer Berlin zeigte eindrücklich: Die Profession steht vor großen Herausforderungen, der politische Rückenwind durch den Koalitionsvertrag kann vorsichtig optimistisch als Chance verstanden werden. Die Fortsetzung folgt – spätestens zur 94. Delegiertenversammlung im September.