Die PtK Berlin setzt sich seit Langem für den Erhalt und Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen nach SGB VIII ein. Im März fand in der Kammer der Fachtag „Arbeitsfeld KJHG-Psychotherapie: Potenziale – Herausforderungen – Grenzen“ statt. Anna Heike Grüneke und Margarita Bernal engagieren sich in diesem Feld und sprechen hier darüber, warum sie so wichtig sind – und mit welchen Herausforderungen Psychotherapeut*innen hier konfrontiert sind.
Anna Heike Grüneke ist Vorstandsmitglied der PtK Berlin und leitet die Kommission KJHG-Psychotherapie der Kammer. Margarita Bernal ist ebenfalls Mitglied der Kommission und leitet den Arbeitskreis für KJHG-Psychotherapien in der PtK. Sie arbeitet seit 2011 im Bereich Psychotherapie im Rahmen der Jugendhilfe.
Was macht Psychotherapien im Rahmen der Jugendhilfe nach SGB VIII so wertvoll?
Margarita Bernal: Im SGB VIII arbeiten wir mit der Familie und dem Netzwerk sowie Akteuren wie dem Jugendamt und dem Fachdienst und können mit sehr individuellen Leistungen auf die Bedürfnisse eingehen. Zum Beispiel können Kinder mit einer Teilleistungsstörung einen lerntherapeutischen Anteil erhalten. Es gibt dann zwei Therapien in einem Kontingent oder familientherapeutische Anteile.
Besonders ist, dass es neben der krankheitswertigen Störung eine weitere Indikation geben muss - im erzieherischen Bereich der Eltern oder auf der psychosozialen Ebene der Familie. Damit eine Psychotherapie nach SGB VIII eingeleitet wird, muss also von Beginn an eine komplexere Notwendigkeit vorliegen. Oft gibt es eine psychische Erkrankung auf Seiten der Eltern oder etwa eine Suchtproblematik oder auch eine Behinderung von Geschwisterkindern.
Anna-Heike Grüneke: Inzwischen gibt es eine neue Richtlinie zur Komplexversorgung schwer psychisch erkrankte Kinder und Jugendlicher, die genau dafür konzipiert ist, schwierige Fälle anders behandeln zu können, als im klassischen ambulanten Setting. Und im Prinzip bietet die Psychotherapie nach SGB VIII genau das auch, weil sie beispielsweise Termine mit Lehrer*innen, Erzieher*innen, Betreuer*innen beinhaltet. Gerade im Kinder- und Jugendlichenbereich spielen ja viele Systeme und Lebensbereiche eine wichtige Rolle - etwa die Schule.
Wie viel Umfeldarbeit ist im Rahmen des Kontingents vorgesehen?
Bernal: Je nach Kontingent sind ein Drittel bis die Hälfte der Stunden für Netzwerkarbeit, Elternarbeit, Kontakte zur Schule vorgesehen. Und natürlich vor die Vor- und Nachbereitung sowie das Verfassen der Berichte.
Gibt es Untersuchungen, die die Wirksamkeit dieses Vorgehens bestätigen?
Bernal: Interessant ist hierzu die WIMES-Studie von 2013, eine Wirkevaluation in Auftrag des Berliner Senats, in der die Psychotherapie nach SGB VIII als sehr wirksam eingestuft wurde. Sie ist eine erfolgreiche Hilfe, die oftmals dazu führt, dass Kinder in Familien bleiben können, weil innerhalb des Systems, in der Struktur der Familie gearbeitet wird. Das macht diese Arbeitsweise auch preisgünstig.
Grüneke: Wir sind bemüht, zu verhindern, dass die Kinder in Kliniken oder in stationäre Jugendhilfe müssen. Denn das sind die kostenintensivsten Hilfsformen - und eben nicht immer die wirkungsvollsten.
Psychotherapeut*innen sind auch in diesem Arbeitsfeld mit gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Damit befasste sich einer der drei Thementische beim Fachtag. Welche sind das?
Bernal: Wir begegnen als Psychotherapeut*innen immer häufiger sehr provokanten politischen Aussagen, die häufig als Schutzschild vorgehalten werden. Wenn man dann ins Gespräch geht, kommen aber plötzlich ganz andere Themen auf den Tisch. Allerdings findet sich das auch in anderen Therapieformen. Und in der Therapie von Patient*innen mit Migrationshintergrund kann kulturelle Unerfahrenheit Missverständnisse oder Konflikte befördern. Als Beispiel: In manchen Kulturkreisen ist Gewalt als Erziehungsmaßnahme normal, das aber stößt in Deutschland rechtlich und gesellschaftlich an ganz andere Grenzen. Dazu mit Eltern ins Gespräch zu kommen, ist nicht immer leicht und bedeutet ein sehr kleinschrittiges Arbeiten. Workshops zu rassismussensiblem Arbeiten und kulturelle Beratung sind darum sehr hilfreich.
Was hat sich in den vergangenen Jahren im Arbeitsfeld gewandelt, ist der Bedarf gestiegen?
Bernal: In der Corona-Pandemie gab es besonders viele Verzögerungen in der Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, die aber zwingend erforderlich ist, um diese Therapien einzuleiten. Dass in vielen Fällen bis zum Start der Therapie viel Zeit vergangen ist, zeigt sich in vielen Familien heute noch an besonders manifestierten Störungen. Auch ist der Fachkräftemangel inzwischen deutlich sichtbar: Die Fachdienste suchen händeringend nach Psychotherapeut*innen, die Wartelisten werden immer länger, die Kinder warten zum Teil über ein Jahr. Das ist dramatisch.
Wo liegen die Gründe für den Fachkräftemangel?
Bernal: Die Situation für die einzelnen Psychotherapeut*innen hat sich verschärft. Einzelpraxen müssen nicht selten Zahlungsrückstände aushalten, die sich zum Teil auf ein halbes Jahr belaufen. Deswegen lassen sich immer mehr KJP-Psychotherapeut*innen bei Trägern anstellen. Das bietet finanzielle Sicherheit und die Fallarbeit kann in den Vordergrund treten.
Grüneke: Hinzu kommt, dass der Senat seit vielen Jahren massiv einspart. Immer wieder wurden zum Beispiel Sozialarbeiter*innenstellen gekürzt. Das wirkt sich auf das Gesamtsystem aus. Auch gab es in diesem Bereich keine Honoraranpassungen für Psychotherapeut*innen. Weil auch die Jugendämter zurzeit unter massivem Personalmangel leiden, ist der Prozess des Zuarbeitens blockiert. Das alles erzeugt mehr Belastungen für alle Beteiligten. Und läuft die Versorgung nicht, nehmen die Probleme zu.
Beim Fachtag wurde auch deutlich, wie herausfordernd die je nach Berliner Bezirk unterschiedlichen Regelungen sind.
Bernal: Ja, in Berlin müssen Psychotherapeut*innen mit jedem einzelnen Jugendamt individuell eine Verfahrensweise erarbeiten. Das bündelt viel Energie, die besser beim Kind und der Familie aufgehoben wäre. Der Prozess könnte sehr erleichtert werden, wenn es für Berlin einheitliche Regelungen gäbe.
Wie ist diesbezüglich der Stand?
Grüneke: Wir haben ein sehr gutes Vernetzungssystem etabliert zwischen Senatsverwaltung, Politik und der PtK Berlin - die auch die Arbeitsgruppe KJHG und eine Kommission zum Thema aufgebaut hat - und arbeiten weiter mit großer Zuversicht daran, eine für alle Bezirke gleich lautende Regelung mit dem Senat auf den Weg zu bringen.
Bernal: Für einen besseren Austausch der Kolleg*innen durch stärkere Netzwerke hat sich aus dem Fachtag heraus die Idee für einen zweimal jährlich tagenden Jour Fixe entwickelt. Der erste Termin steht nun schon fest am 16. Oktober von 9 bis 11 Uhr.
Warum ist nach Ihrer Ansicht das Bedürfnis nach Vernetzung so groß?
Bernal: Weil die Verfahrensweisen so unterschiedlich sind und sich die Psychotherapeut*innen in oft diffusen und schwierigen Strukturen orientieren müssen. Aber auch inhaltlich gibt es sehr komplexe Fälle. Dafür ist es wichtig, die richtigen Beratungseinrichtungen zu kennen. Und hinzu kommt natürlich auch die Intervision.
Welche Herausforderungen kamen beim Fachtag noch zur Sprache?
Grüneke: Es wurden viele positive Seiten thematisiert - aber zugleich auch strukturelle Mängel deutlicher. Die Kolleg*innen haben viele Verbesserungswünsche besprochen, etwa: mehr Informationen und einheitliche Standards in allen Bezirken, informative Leitfäden und Schulungen, eine Vereinfachung der Verfahren durch den Abbau bürokratischer Hürden, verpflichtende Fortbildungen auch für Jugendamtsmitarbeiter*innen, gestärkte Strukturen und mehr Personal. Außerdem bedarf die Honorarsituation, die die Kolleg*innen derzeit als sehr unbefriedigend empfinden, einer Anpassung.
Der Berufsverband für KJHG-Psychotherapie bemüht sich, Qualitätszirkel und Intervisionsgruppen in den einzelnen Bezirken zu initiieren. Es bräuchte verbindliche Kooperationsstrukturen – und das versucht die PtK Berlin auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Nicole Sagener
Die PtK Berlin veranstaltete am 21. März den Fachtag „Arbeitsfeld KJHG-Psychotherapie: Potenziale – Herausforderungen – Grenzen“ zu Psychotherapien im Rahmen der Jugendhilfe nach SGB VIII. Organisiert wurde die Fortbildung durch die Kommission KJHG der PtK Berlin. Sie bot die Möglichkeit, an mehreren Thementischen über gesellschaftliche Herausforderungen, systemübergreifende Netzwerkarbeit und Transition zu diskutieren.